Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag zur bedrohlichen Entwicklung in und um Ukraine

17. März 2014

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„Wenn es um den Schutz von Menschen geht, ist reden allemal besser als schießen!“

Dr. Michael Bothe, Professor em. für Völkerrecht, SZ, 6. März 2014

Führende Politiker/innen aus NATO, EU und Bundesregierung tun so, als gäbe es erst mit den militärischen Maßnahmen Russlands ein Problem in der Ukraine; als bedrohe die Verstärkung der russischen Schwarzmeerflotte auf der ukrainischen Halbinsel Krim den Frieden in der Region und in Europa; als würde die Anwesenheit russischer Streitkräfte und die Übernahme bestimmter öffentlicher Ämter in einigen mehrheitlich von Russen besiedelten Städten der Südostukraine den Gewaltkonflikt im Land verschärfen. Ein solches Schwarz-Weiß-Denken führt in die Irre. Es war der Westen – allen voran die Bundesregierung und die Kommission der Europäischen Union sowie die US-Administration -, der seit Jahren mit allen Mitteln ökonomischer und politischer Erpressung versucht, die Ukraine aus dem Einflussbereich Russlands herauszulösen, mittels des Konzepts der „Östlichen Partnerschaft“ den Marktbedingungen der EU unterzuordnen und an die militärischen Strukturen der NATO  anzugliedern. Entsprechend groß war die Enttäuschung der EU, als der ukrainische Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU in letzter Minute aussetzte und als Alternative dazu den Beitritt zur Zollunion der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft empfahl. Die Annäherung an die EU war in der Bevölkerung der Ukraine populär, weil sie sich davon – wahrscheinlich zu Unrecht – einen wirtschaftlichen Aufschwung erhoffte. Gegen eine stärkere Ostorientierung machten sofort antirussische Kräfte in der Ukraine mobil, die sich auf einen großen Teil der Bevölkerung in der wirtschaftlich rückständigen Westukraine stützen konnten. Die Bundesregierung stilisierte den innerukrainischen Streit um die richtige außenwirtschaftliche Orientierung zu einem Kampf zwischen zwei Optionen: einer Westorientierung, verbunden mit einer Entscheidung für Demokratie, Freiheit, Menschenrechte und Wohlstand, auf der einen Seite, und einer Ostorientierung, gleichbedeutend mit Abhängigkeit, Unfreiheit und wirtschaftlicher Misere, auf der anderen Seite. Dabei liegt es auf der Hand, dass die Zerschlagung der ökonomischen Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland zu einer weiteren Verarmung aller Teile der Ukraine und ihrer Bürger/innen führen würde. Umgekehrt würde der Großteil der ukrainischen Bevölkerung bei einer reinen Westbindung oder gar „Integration“ in die EU unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds und der EU-Troika mehr verlieren als gewinnen. Ein Blick in die „Transformations“-Gesellschaften Bulgariens und Rumäniens sollte Warnung genug sein. Der Westen scheute sich auch nicht, sich von Anfang an demonstrativ hinter die Opposition in Kiew zu stellen – ohne zu fragen, wer denn diese Opposition bildet. Ein auch nur oberflächlicher Blick auf die Zusammensetzung der Opposition und auf die Wortführer und Organisatoren der Proteste auf dem Maidan hätte zu Tage gefördert, dass die rechts-nationalistische Partei „Svoboda“ und der militant und sehr bald auch bewaffnet auftretende „Rechte Sektor“ den Ton angaben und die Richtung der Proteste bestimmten. Ihr Anführer Dimitri Jarosch hat zwei Jahrzehnte lang bewaffnete Nationalisten ausgebildet, so dass sein „Rechter Sektor“ über mehrere  Tausend bewaffnete Kämpfer verfügt. Er ruft zum „nationalen Befreiungskrieg“ und für die „Entrussifizierung der Ukraine“ auf (Spiegel online, 03.03.2014). Diese Kräfte kaperten eine anfänglich von friedlich gesinnten Demonstranten beherrschte Bewegung, besetzten Rathäuser und zuletzt auch das Parlament und den Regierungssitz des Präsidenten und unterliefen alle Versuche zur Mäßigung und zu einem Kompromiss. Auch die durch die EU vermittelte Vereinbarung zwischen dem amtierenden Präsidenten Janukowitsch und der Opposition (vertreten durch Klitschko, Janzenjuk und Tjagnibok) wurde von den Rechtsradikalen nicht akzeptiert: Sie bestanden darauf, den Präsidenten davonzujagen und drohten mit weiterer Gewalt, wenn ihre radikalen Forderungen nicht erfüllt würden. Der Präsident flüchtete aus dem Land und tauchte später in Russland wieder auf. Er gab an, dass sein Fahrzeug beschossen worden sei. In der Folge wurde – unter Umgehung der ukrainischen Verfassung und unter dem Druck des Maidan – eine neue Regierung installiert. Allein schon ihre mangelnde Legitimität macht es Russland leicht, den Dialog mit ihr abzulehnen. Bedeutender noch: In ihr hat eine Reihe rechtsradikaler und antirussischer Nationalisten wichtige Ministerien und Funktionen erhalten: Oleksandr Sytsch (stellv. Vorsitzender der rechtsextremen Partei „Svoboda“) wurde Vizepremierminister; Andrej Parubi (er kommandierte die bewaffneten Kräfte auf dem Maidan) wurde Vorsitzender des ukrainischen Sicherheitsrates und verkündete am 1. März die „allgemeine Mobilmachung“;  seit Anfang März ist der militante Rechtsradikale Dimitri Jarosch sein Stellvertreter;  Oleg Machnitzki wurde zum Generalstaatsanwalt ernannt. Als Anwalt verteidigte er seiner Zeit den Vorsitzenden von „Svoboda“, Oleg Tjagnibok, der wegen einer antisemitischen Hetzrede („Die Ukraine wird von einer jüdisch-Moskauer Mafia regiert“) vor Gericht stand. Agrarminister wurde schließlich „Svoboda“-Mitglied Igor Schwaika. Somit war klar, dass die Bestimmung im Sechs-Punkte-Plan vom 21. Februar, wonach eine Entwaffnung der oppositionellen Kampfverbände binnen 48 Stunden erfolgen sollte, nicht einmal ansatzweise in Angriff genommen wurde. Auch die ersten „Amtshandlungen“ des Parlaments – das unter der bedrohlichen „Beobachtung“ der rechten Szene stand – ließen nichts Gutes erahnen: So wurde das liberale Sprachengesetz abgeschafft, das sprachlichen Minderheiten das Recht auf eine zweite Amtssprache gab, wo die Bevölkerung einer Region zu mehr als 10 Prozent nicht ukrainisch spricht (was in vielen Distrikten der Süd- und Ostukraine der Fall ist, hier wird vielfach russisch gesprochen). Und – fast noch alarmierender – es wurde das Verbot faschistischer Propaganda aufgehoben. Man stelle sich nur einmal vor, hier zu Lande würden nationalsozialistische Schriften, Embleme usw. wieder frei zugelassen! Man stelle sich weiter vor, bewaffnete Rechtsradikale besetzten Rathäuser, Gerichte, Büros der früheren Regierungsparteien, machten Jagd auf unliebsame Politiker und bedrohten anderssprachige oder jüdische Bürger/innen! Israel hat zum Schutz jüdischer Bürger ein Team nach Kiew geschickt, um ukrainische Juden in Selbstverteidigung zu trainieren. Als Antwort auf die faschistische Gefahr und die antirussischen  Ausschreitungen will denn auch Russland seine militärischen Maßnahmen auf der Insel Krim verstanden wissen. Russland verfügt dort (in Sewastopol) über einen vertraglich vereinbarten, strategisch wichtigen Flottenstützpunkt, der die Präsenz ihrer Schwarzmeerflotte sowie bis zu 25.000 Militärangehörigen erlaubt. Hinzu kommt die Erlaubnis zur Unterhaltung von 24 Artilleriesystemen, 132 gepanzerten Fahrzeugen und 22 Militärflugzeugen. Daneben hat Russland zwei Luftwaffenstützpunkte (in Kacha und Gwardeysky). Der Beschluss des russischen Parlaments, zum Schutz „unserer Landsleute und der Angehörigen der Einheiten der russischen Streitkräfte“ notfalls „bewaffnete Truppen“ auf dem Territorium der Ukraine einzusetzen, „bis die soziale und politische Situation in diesem Lande sich normalisiert hat“, geht eindeutig über das Stationierungsabkommen hinaus. Insbesondere wären alle Maßnahmen – auch wenn sie im Einvernehmen mit der Mehrheit der Bevölkerung auf der Krim getroffen würden – rechtswidrig, die auf eine einseitige Lostrennung der Krim oder anderer Regionen aus dem ukrainischen Staatsverband hinausliefen. Nach der Charta der Vereinten Nationen ist eine Sezession unzulässig, es sei denn sie beruht auf einer einvernehmlichen Regelung der betroffenen Parteien – in diesem Fall also der Gesamt-Ukraine. Die Trennung Tschechiens und der Slowakei oder die Unabhängigkeit Südsudans waren Beispiele erlaubter  „Sezessionen“. Die einseitige Unabhängigkeitserklärung der serbischen Provinz Kosovo dagegen war völkerrechtswidrig, weil sie gegen den Willen Serbiens erfolgte. Für problematisch halten wir auch das Argument Moskaus, Truppen zum „Schutz“ der Bevölkerung stationieren zu können. Es gibt kein Recht auf eine „humanitäre Intervention“ und die Friedensbewegung hat oft genug gegen so oder ähnlich begründete Militäraktionen Position bezogen (z.B. NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Afghanistan-Krieg, Irakkrieg, Luftkrieg gegen Libyen, Frankreichs Krieg in Mali). Wir werden das auch im Fall einer militärischen Invasion Russlands in der Ukraine tun, die über den rechtlich erlaubten Rahmen auf der Krim hinausgeht. Wir weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass die russischen Maßnahmen nur vor dem Hintergrund der massiven Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten der Ukraine und der Gewalteskalation in Kiew zu verstehen sind. Nach Aussage des estnischen Außenministers Urmas  Paet kommen die Hintermänner der Scharfschützen, die auf dem Maidan Dutzende von Menschen gezielt getötet haben (und zwar gleichermaßen Anhänger der Opposition und der amtierenden Regierung) aus ihren Reihen. Wenn deutsche, US-amerikanische oder polnische Politiker die Antiregime-Demonstrationen auf dem Maidan unterstützten, wenn der CIA in Kiew Oppositionspolitiker anheuerte, wenn NATO und EU von Beginn an auf einen Regimewechsel hingearbeitet haben, wenn Milliarden Dollar investiert wurden, um die Ukraine aus ihrer historischen Beziehung zu Russland heraus zu reißen, wenn schließlich die illegalen Maßnahmen des ukrainischen Parlaments (von der Absetzung des gewählten Präsidenten bis zur Annullierung des Sprachengesetzes) kommentarlos hingenommen und zu den faschistischen Umtrieben geschwiegen wird: Dann hat der Westen jede Glaubwürdigkeit verloren, die Maßnahmen Russlands unter Bezugnahme auf das Völkerrecht zu kritisieren und sie zu einer internationalen Krise erster Ordnung aufzubauschen.

Dem Kriegsgeschrei halten wir entgegen: Kein Krieg!

In der hochexplosiven gegenwärtigen Lage sollen multilaterale Gespräche und Verhandlungen über alle die Ukraine betreffenden Fragen auf Grundlage der Prinzipien der OSZE als einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit geführt werden. Dabei kommt der Bundesregierung, die durch ihre permanente Einmischung in die Angelegenheiten der Ukraine wesentlich zur gegenwärtigen Krise beigetragen hat, besondere Verantwortung zu. Bei solchen Verhandlungen könnten die folgenden Vereinbarungen erzielt werden:

  •  Eine Beteiligung rechtsextremer und faschistischer Kräfte an der ukrainischen Übergangsregierung ist auszuschließen. Die faschistischen Kräfte in der Ukraine sind zu entwaffnen. Die Morde durch Scharfschützen auf dem Maidan werden von unabhängiger Seite untersucht.
  • Jede einseitige Maßnahme zur Sezession der Krim oder anderer Landesteile der Ukraine ist zu stoppen. Sezessionen könnten nur einvernehmlich erzielte Ergebnisse eines gesamt- ukrainischen Prozesses sein, der auch die Rechte und Interessen von Minderheiten (z.B.der Tartaren auf der Krim) wahrt.
  • Die Beziehungen Russlands und der Ukraine sind besonderer Art. Die NATO nimmt die Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation genauso ernst wie die der Ukraine.
  • Die Bündnisfreiheit der Ukraine ist von allen Konfliktparteien zu akzeptieren.
  • Die ukrainische Übergangsregierung stoppt die Mobilmachung der Streitkräfte, die russische Regierung hält das Abkommen über die Krim ein und USA und EU stellen die Sanktionen gegen Russland ein. Russland nimmt die Interventionsdrohung gegen die Ukraine zurück.
  • Sämtliche Rüstungsexporte aus dem EU-Raum nach Russland und in die Ukraine werden gestoppt.

Von der Bundesregierung erwarten wir darüber hinaus:

  • die Beendigung der antirussischen Kampagne,
  • den Stopp des Aufbaus des sog. Raketenschirms auf deutschem Boden, der von Russland nur als Bedrohung betrachtet werden kann. Verhandeln ist besser als schießen.

Bundesausschuss Friedensratschlag, 9. März 2014

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